Von Kausalität und Komplexität

Mai 28 2020

Dieser Text wurde zuerst als Gastbeitrag unter dem Pseudonym Tangalur in der Kolumne "Film und Fußball" auf KeinVerlag veröffentlicht.

“Was? Wovon redet der? Kausalität und Komplexität? Was hat das mit Filmen zu tun?” - Viel. Aber vielleicht fangen wir nicht am Ende an, sondern am Anfang.

Derzeit gibt es kein Thema, das die Menschen mehr beschäftigt, als dieses winzige Ding mit dem Namen “SARS-CoV-2”. Auf den sozialen Medien herrscht Krieg - aber hier wird nicht mit ballistischen, chemischen oder biologischen Waffen gekämpft, nein, es herrscht eine wahre Infodemie. Bill Gates will alle Menschen chippen lassen? Der Lockdown ist eine Lüge? Was für ein Film epischen Ausmaßes!

Doch stellt sich mir die Frage: woher kommt das? Also, nicht dass es das Hauptthema ist - man hat ja sonst nix mehr, worüber man reden kann. Sondern wieso werden jetzt all diese Verschwörungstheorien laut? Ist den Menschen langweilig, weil sie nicht mehr ins Kino dürfen? Jein. Langeweile ist sicherlich ein Faktor in dem ganzen Trauerspiel, jedoch nicht der einzige. Angst und mangelnde Informationen stehen auch ganz oben auf der Liste. Aber sind wir damit schon am Ursprung der Kausalitätskette? Und endlich beim Thema Film angelangt?

Nein. Und ja! Ein guter Film lebt ja bekanntlich von einem Spannungsbogen. Aber wie funktioniert so ein Spannungsbogen? Wieso kann man Spannung aufbauen? Ein Teilaspekt dessen, den wir uns jetzt ansehen wollen, ist die Verfügbarkeit von Information. Die Spannung einer Handlung lebt davon, dass der Zuschauer relevante Teile der Informationen nicht kennt. Ich rede hier nicht von einem MacGuffin, dessen eigentliche Funktion nur darin besteht, zu existieren - sondern von wirklich wichtigen Informationen. In einem klassischen Krimi muss der Zuschauer mit den wenigen Informationen, die dem Ermittler zur Verfügung stehen, auskommen. Das macht den Hauptteil der Spannung aus. Wer hat Heinz Müller warum wie ermordet? Am Ende kommt man meist auf einen relativ einfachen Zusammenhang aus Ursache (Motiv) und Wirkung (Mord).

Nun hat ein guter Film aber noch eine weitere Eigenschaft: man schaut ihn sich auch gerne mehrmals an. Der Spannungsbogen alleine kann nicht Grund dafür sein. Man kennt die Handlung, diese Luft ist jetzt raus. Und dennoch gibt es Dinge, die dazu führen, dass man sich sogar einen klassischen Krimi, dessen Lösung man bereits kennt, mehrmals anschaut. Nun, herzlich Willkommen in der Welt der Komplexität. Ein guter Krimi lebt nicht von seinem Plot. “Lieschen Meier hat Heinz Müller aus Eifersucht mit dem Messer erstochen” habe ich vermutlich schon in locker 200 Varianten gesehen. Das, was einen Film lebendig macht, sind die vielen Dinge darumherum: Emotionen, Charakterentwicklung, Detailreichtum am Set, “Nebenquests” und versteckte Abhängigkeiten. Diese Dinge bewirken, dass wir gute Filme immer wieder ansehen, unter anderen Gesichtspunkten, und immer wieder Neues in ihnen entdecken - denn wir können gar nicht alle Details, alle Zusammenhänge auf einmal erfassen.

Genau so geht es uns nun auch mit Covid-19. Die Ursache-Wirkungsbeschreibung “da ist ein Virus und macht uns krank” ist altbekannt. Das wichtige ist: wie verhält es sich? Wie breitet es sich aus? Jede Analyse, jede Studie kann ein so komplexes System nur aus einem Blickwinkel betrachten, nur einzelne Aspekte untersuchen. Jede Studie verbessert das Bild, und hilft uns, die vorherigen Informationen genauer zu bewerten und besser zu verstehen. “Der Lockdown war unnötig” streitet gegen “der Lockdown musste genau so passieren” - doch die Welt ist nicht schwarz und weiß, die Welt ist bunt. Sicherlich wird man Aspekte finden können, die unnötig waren. Genauso wie Teile der Maßnahmen maßgeblich zur Eindämmung beigetragen haben.

In diesem Sinne möchte ich nun alle Leser dazu auffordern, selbst darüber nachzudenken, und sich ein differenziertes Bild zu schaffen. Versetzt euch in die Positionen der Anderen, betrachtet die Sache aus einem anderen Blickwinkel, und diskutiert konstruktiv, nicht destruktiv. Zusammen schaffen wir es, das “Jahrhundert der Komplexität” zu überstehen!