Von Farben und Komplexität

Mai 07 2020

Nur weil man sich nicht freudestrahlend gegen Covid-19 impfen lassen will, ist man noch kein "Impfgegner".

Nur weil man die RKI-Kommunikation verwirrend findet, ist man noch kein Verschwörungstheoretiker.

Beobachtung 1: Wer nicht 100% d'accord geht mit "Kurs Merkel" wird sofort als Verschwörungstheoretiker abgestempelt. Wer es bedenklich findet, dass Kapitalisten einen Impfstoff mit vereinfachten Zulassungsbestimmungen auf den Markt werfen wollen, ist automatisch Impfgegner. Als wäre die Welt schwarzweiß, als gäbe es keine Graustufen.

Beobachtung 2: "Beschimpfen statt aufklären" hat stark zugenommen. Das verstehe ich nicht: Niemand mag es "dumm" genannt zu werden. Und ich glaube nicht daran, dass es in meinem Bekanntenkreis "dumme" Menschen gibt. Verschwörungstheorien entstehen in der Regel vor allem aus Unwissen in einem bestimmten Fachzweig - und daraus folgender Angst. Das ist doch total klar - wir können nicht alle gleichzeitig Ärztin, Astrophysikerin, Informatikerin, Tischlerin und Historikerin sein. Das Leben besteht aus Teamwork, denn nur so ist die Menschheit erfolgreich.
Wir können aber etwas tun - wir können herausfinden, wo die Ängste des jeweils anderen liegen. Wir können darauf eingehen, und erklären, warum irgendetwas geschieht, und warum das sinnvoll ist. Wir können uns gegenseitig aufbauen, gemeinsame Nenner finden, und wir können alle voneinander lernen.

Beobachtung 3: (Uff, jetzt wird's kompliziert...) Ich sehe hier immer wieder den Wunsch nach Kausalitätsketten. Das ist insofern logisch, als dass die gesamte Forschungsgeschichte der Menschheit bis ins späte 20. Jahrhundert so funktioniert hat. "Wenn ich einen Apfel hochwerfe, fällt er wieder herunter" - das stimmt in den meisten Fällen, aber eben nicht immer. Wenn ich einen Apfel schnell genug hoch werfe, löst er sich aus der Erdanziehungskraft und fliegt sonstwohin. Das hat gut funktioniert, und die meisten mechanischen Maschinen, die wir benutzen, folgen diesem Prinzip: eine dedizierte Ursache führt zu einer dedizierten Wirkung. Das macht es uns einfach, sie zu bedienen, und die Kausalitätskette lässt eine sehr einfache und direkte Fehlerbehebung zu. Doch schon bei Computern wird es komplexer: endlos viele Faktoren wirken auf das System ein. Was zwischen einem Tastendruck und dem Erscheinen eines Buchstabens auf dem Bildschirm passiert, hat viele Abhängigkeiten, und fast alle sind "Blackboxen", von denen wir nicht wissen, was sie tun. Warum erscheint mein Buchstabe nicht? Das Kabel könnte kaputt sein, ein Treiber könnte einen Fehler haben, ein Prozess könnte abgestürzt sein, ein anderes Programm könnte ihn abfangen... es gibt viele Möglichkeiten für diese Ursache.
Computersysteme und Biologie haben eines gemeinsam: sie sind komplex. Das bedeutet: nur weil ich weiß, wie jeder einzelne Teil funktioniert, heißt das noch nicht, dass ich verstehe, wie das Gesamtkonstrukt funktioniert. Das System ist mehr als seine Einzelteile. Wenn wir die Entwicklung einer Epidemie betrachten, dann betrachten wir immer nur einen kleinen Ausschnitt eines hochkomplexen Systems, und versuchen daraus Aussagen zu treffen. "Ohne Lockdown wäre alles in die Hose gegangen" vs. "der Lockdown hat nichts gebracht"? Die Wahrheit liegt sicherlich irgendwo in der Mitte. Es gibt sicherlich Teilaspekte, die einfach überhaupt keine Wirkung hatten. Es gibt aber genauso sicher auch Aspekte des Konzepts, die "missionskritisch"waren. Es ist halt alles nicht so einfach, wie man es gerne hätte...

In diesem Sinne: die Welt ist bunt - malt sie nicht immer nur schwarz oder weiß!